(Foto: © Lina Ikse Bergmann)
Herr Mankell, lassen Sie
uns über Wallander sprechen – oder sagen Sie Kurt?
Wallander, für mich ist er Wallander.
Wie sind Sie vor über 20
Jahren auf die Figur des Wallander gekommen?
Es ist genau 20 Jahre her. 1989, das Jahr in dem wir sehr deutlich
sahen, dass sich in Europa eine Menge tut: der Fall der Berliner Mauer
und all das. Ich wollte etwas über die großen Veränderungen, die in
Europa im Gange waren, schreiben. Aus diesem Grund habe ich eine
Kleinstadt im Süden von Schweden gewählt. Am Anfang hatte ich gar nicht
vor, mehr als ein Buch mit Wallander zu schreiben, aber ich erkannte
schnell, dass ich mit ihm eine Art Instrument geschaffen hatte, das ich
benutzen konnte, um viele Geschichten zu erzählen. Zunächst war mir das
alles aber gar nicht so klar. Ich schrieb ein Buch, dann zwei, dann
drei, dann vier Bücher und dann erst wurde es eine Reihe.
Dieser Wallander hat Sie
jetzt so viele Jahre hinweg begleitet, er ist Ihre berühmteste Figur
geworden. Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?
Wir kennen uns sehr lange, das stimmt. Aber wenn ich mir vorstelle, er
wäre eine wirkliche Person, also jemand, der jetzt hier bei uns sitzen
könnte – ich denke nicht, dass wir Freunde würden. Er hat eine Menge
Charakterzüge, die ich so ganz und gar nicht mag. Die Art wie er Frauen
behandelt zum Beispiel. Oder wie er mit sich selbst umgeht: Er isst
schlecht, er trinkt zuviel, und er interessiert sich für meinen
Geschmack zu wenig für Politik.
Aber Sie lieben beide
die italienische Oper.
Das ist richtig. Außerdem arbeiten wir beide ziemlich viel. Über ein
bisschen könnte man also sprechen.
Wenn Sie einen
Kriminalroman schreiben, beschäftigen Sie sich ja nicht nur mit
Wallander, also der Person, die alles aufklärt und zum Guten führt,
sondern Sie haben ja eigentlich als Autor eine Menge Dreck am Stecken:
sie haben mehrfach gemordet. Das heißt, Sie haben auch in der
Psychologie des Mörders gelebt. Haben Sie schon einmal eine tatsächlich
existierende Person im Geiste umgebracht?
Ich glaube, das habe ich – auf dieselbe Art und Weise wie Sie das auch
getan haben. Ich glaube, es gibt keinen Mensch, der nicht schon mal so
verärgert war, sich nicht den Tod eines anderen Menschen zu wünschen.
Ich glaube, wir denken das alle mal, aber wir setzen es natürlich nicht
in die Praxis um. Wenn Leute sagen, dass sie so etwas noch nie gedacht
haben, glaube ich ihnen einfach nicht.
Sind Sie, wenn Sie
schreiben, ein moralisch freier Mensch?
Ja, ich glaube schon. Aber es gibt auch eine Seite, wie immer in der
Kunst, die hat eine moralische, eine ethische Dimension. Du schreibst
und Du willst irgendwie, dass die Welt dadurch besser wird. Das klingt
sehr fantastisch, aber ich denke, dass diese ethische Dimension immer
existiert.
Es ist jetzt 10 Jahre
her, dass Sie Die Brandmauer geschrieben haben. Damals sagten Sie, dies
sei Ihr »letzter« Wallander-Roman. Natürlich fragt sich jetzt jeder, was
Sie bewogen hat, doch noch einmal zu ihm zurückzukehren?
Ja, manchmal irrt man sich. Als ich Die Brandmauer beendet hatte, dachte
ich wirklich, dass mit Wallander Schluss sei. Und bis vor fünf Jahren
war ich auch noch fest davon überzeugt. Aber dann bekam ich plötzlich
das Gefühl, dass noch etwas fehlte.
Was denn?
Ich bemerkte, dass es keine Geschichte über Wallander selbst gab. Alle
neun Bücher handelten immer nur von ihm im Zusammenhang mit einem Fall.
Aber sehen wir doch einmal Wallander selbst als Rätsel: Wer ist dieser
Mann eigentlich? Auf diese Frage gab es für mich keine befriedigende
Antwort. Also beschloss ich, doch noch ein Buch zu schreiben. Aber
diesmal ist es wirklich das letzte.
Auch für Ihren Ermittler
ist eine lange Zeit vergangen. Das Buch beginnt im Jahr 2007, doch
beschäftigt es sich diesmal nicht mit der Gegenwart, sondern mit dem
Kalten Krieg. Der Schwiegervater von Wallanders Tochter Linda
verschwindet spurlos und es scheint, als liege der Schlüssel irgendwo in
seiner Vergangenheit als hohes Mitglied der schwedischen Marine. Es geht
um Politik, Spionage und Landesverrat. Warum haben Sie kein aktuelles
Thema gewählt?
Wallander und ich sind ein Jahrgang. Wenn ich also etwas über seine
Persönlichkeit erzählen wollte, musste ich ein Thema finden, dass
zugleich die Ära beschreibt, die uns geprägt hat. Etwas, das sein Leben
beeinflusst hat, auch wenn er das bis dahin vielleicht nicht wahrgenommen
hat. Also habe ich über die verschiedenen politischen Skandale
nachgedacht, die ich im Laufe meines Lebens in Schweden erlebt habe.
Wallander ist kein politischer Mensch. Aber ich wollte ihn einmal
zwingen, sich mit seiner eigenen Zeit auseinander zu setzen. Für unsere
Generation ist diese Zeit vom Kalten Krieg bestimmt. Dieser Konflikt war
ein Teil unseres Lebens.
Der Feind im Schatten
hat einen realen Hintergrund. Ein U-Boot spielt eine wichtige Rolle.
Können Sie kurz umreißen, was da in den achtziger Jahren in Schweden
genau passiert ist?
Im Herbst 1982 gab es einen plötzlichen Alarm bei der Schwedischen
Marine, sie hatten vor Stockholm U-Boote gesichtet. Die Marine fing an,
die U-Boote zu jagen, aber sie bekamen nie eines zu fassen, geschweige
denn zu sehen. Doch alle behaupteten damals, dass es russische U-Boote
seien. Zur gleichen Zeit wurde Olof Palme erneut Premierminister. Es
wurde ein Komitee gebildet, um herauszufinden was wirklich passiert war.
1983 dann, an einem Tag im März, bekam Palme den Bericht des Komitees.
Er wurde so wütend, als er den Bericht las, dass er ihn wegschmiss und
rief: Wo zur Hölle sind die Beweise, dass es russische U-Boote waren?
Doch es gab keine Beweise. Das ist der Hintergrund. Ich habe einen Weg
gefunden, wie ich den heutigen Wallander mit diesen Ereignissen
verbinden konnte.
Kurt Wallander muss in
dieser Geschichte erkennen, wie wenig Ahnung er von Politik und dem
geschichtlichen Kontext hat. Er hat sich nie dafür interessiert. Zum
Beispiel war für ihn als junger Familienvater der Umzug von Malmö nach
Ystad wichtiger als die Frage, ob Schweden der NATO beitreten sollte.
Ja, das ist der Unterschied zwischen uns, ich bin ein sehr politischer
Mensch. Deshalb war es für mich interessant, darüber zu schreiben. Ich
erinnere mich sehr genau daran, wie es war, als die Mauer gebaut wurde
und wie es war, als sie fiel. Wie es war, nach Ost-Berlin einzureisen
und wie es war, als die Stadt wieder vereint war. Das sind einzelne
Ereignisse, aber dazwischen liegt im Grunde der ganze Erfahrungshorizont
unserer Generation. Auch wenn man das im Privatleben eines Einzelnen
vielleicht nicht bemerkt hat. Es war die Zeit, in der »wir« einen
einzigen Feind hatten, und der kam aus dem Osten.
Waren Sie selbst oft in
der DDR?
Ich bin für das Theater häufig nach Ost-Berlin gefahren. Ich war oft im
Berliner Ensemble und habe sogar Helene Weigel noch erlebt. Damals fuhr
ich entweder direkt mit dem Zug oder kam über den Check-Point Charlie.
Von heute aus erscheint einem das sehr unwirklich. Was mich aber
wirklich erschreckt, wenn ich an diese Zeit denke, ist die Frage: Warum
habe ich nicht viel früher erkannt, dass dieses System zum Scheitern
verurteilt ist? Dass so ein Staat nicht funktionieren kann. Stattdessen
haben wir es einfach so hingenommen, haben es akzeptiert.
An einer Stelle des
Romans spielt auch ein ehemaliger Stasi-Offizier der DDR eine Rolle.
Warum taucht der da auf?
Ich wollte daran erinnern, dass Schweden ziemlich eng verbunden ist mit
dem, was in Deutschland vor sich ging. Schweden ist ein Land, in das
Deutsche mit dunkler Vergangenheit schon immer gerne geflohen sind, um
sich dort eine neue Identität aufzubauen. Nach dem 2. Weltkrieg waren es
Nazis; nach dem Zusammenbruch der DDR ehemalige Stasi-Leute oder
Personen, die anderweitig etwas zu verbergen hatten.
Sie spielen auf das DDR
-»Sportwunder« an.
Ja, es gibt in meinem Buch einen Mord, der Wallander auf die Spur des
Doping-Wunders führt. Diese absolut fürchterliche Art und Weise, den
Körper mit chemischen Substanzen zu behandeln. Das war der Kalte Krieg
mit anderen Mitteln. Ein großer Betrug…
…an den aber alle
geglaubt haben…
Militärisch war es genauso. Wir haben uns von Paraden beeindrucken
lassen, ohne zu bemerken, wie schwach die Sowjetunion in Wahrheit war.
Auch Schweden hat eine Menge Geld in sein Verteidigungssystem gesteckt.
Aber Schweden war ein
neutrales Land.
Nein, eben nicht. Das ist Unsinn. Wir haben amerikanischen
Kampfflugzeugen gestattet, über unser Territorium zu fliegen, und wir
standen in Wahrheit immer auf Seiten der NATO. Schweden war nicht
neutral. Das war eine Lüge, die wir uns selbst aufgetischt haben. Die
Russen wussten das übrigens.
Wie haben Ihre
schwedischen Leser auf dieses Thema reagiert?
Es gab zwei Reaktionen. Die einen sagten: Gut, dass es mal jemand sagt.
Die anderen fanden, man sollte doch die Dinge ruhen lassen. Wie immer,
wenn es um weniger ruhmvolle Aspekte der Vergangenheit geht. Aber dazu
habe ich in New York einmal einen sehr interessanten Gedanken entdeckt.
Es war ein Graffitto an einer Häuserwand: »Man vergisst, was man nicht
vergessen will und denkt nur das, was man lieber vergessen hätte…«
…das ist auch das Motto
des neuen Romans und es trifft auf niemanden besser zu als auf Wallander
selbst. Zumindest was sein Privatleben angeht, war er immer ein Meister
der Verdrängung. Aber plötzlich gelingt ihm das nicht mehr.
Ja, das ist so. Wenn man 60 ist, gibt es ein paar Gewissheiten. Du
weißt, mehr als die Hälfte deines Lebens hast du bereits hinter dir. Nur
sehr wenige Menschen werden 120. Das heißt, du bewegst dich aufs Ende
zu. Das ist die erste Tat- sache. Die zweite hängt unmittelbar damit
zusammen: Die wichtigsten Entscheidungen in deinem Leben sind gefallen.
Es ist sehr unwahrscheinlich und oft unmöglich, noch einmal etwas ganz
Neues anzufangen. Also ist es ein natürlicher Impuls, rückwärts zu
blicken. Und da tauchen all die Fragen auf: Was habe ich aus meinem
Leben gemacht? Welche Träume hatte ich, als ich jung war? Konnte ich sie
verwirklichen? Wenn nein, warum nicht? Es ist der ganz normale Prozess,
den Wallander durchmacht.
Sie sind genauso alt wie
er, erleben Sie das so?
Ja, aber ich muss vor diesen Fragen keine Angst haben. Ich hatte großes
Glück, und ich konnte in meinem Leben genau das machen, wovon ich
geträumt habe. Mir ist aber bewusst, dass es nicht viele Menschen gibt,
die das von sich sagen können.
Nach dem Alter kommt der
Tod. Die Angst vor dem Tod verfolgt Wallander schon vom ersten Roman an.
Er hat zum Beispiel unklare Schmerzen in der Brust – und schon fürchtet
er einen Herzinfarkt. Gleich-zeitig versäumt er Arzttermine und
vergisst, seine Medikamente zu nehmen. Ein typischer männlicher
Hypochonder.
Angst vor dem Tod hat jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, und in
unserer Gesellschaft gehört das Sterben nicht zum Leben dazu. Das macht
die Angst größer. Aber ich stimme Ihnen zu, dass Männer die besseren
Verdränger sind.
Wird Kurt Wallander denn
im Fernsehen noch ein wenig weiter leben?
Was die schwedischen Serien betrifft, nein. Aber Kenneth Branagh wird
noch einige Folgen drehen.
Welcher Film-Kommissar
kommt Ihrer eigenen Vorstellung von Wallander am nächsten?
Die beiden schwedischen Darsteller habe ich mit ausgesucht, deswegen bin
ich natürlich mit beiden einverstanden. Und Kenneth Branagh ist sowieso
brillant. Aber meiner ganz persönlichen Vorstellung von Wallander
entspricht keiner von ihnen. Wozu auch? Es ist ihr Wallander, so wie
jeder Leser seinen eigenen Wallander im Kopf hat. Da draußen laufen
wahrscheinlich Millionen verschiedene Wallanders herum.
Die deutschen Leser
lieben ihn besonders, was, glauben Sie, fasziniert die Deutschen so sehr
an diesem schwedischen Kommissar?
Ich glaube, aber das trifft auf die Leser in Europa generell zu, es hat
damit zu tun, dass er ganz einfach menschlich ist. Wallander ist kein
»hardboiled hero«. Er verändert sich, er wird älter. Außerdem ist er in
bestimmter Hinsicht sehr durchschnittlich. Nehmen Sie seine Diabetes.
Eine Volkskrankheit. Oder können Sie sich James Bond vorstellen, wie er
kurz auf die Toilette geht, um sich eine Insulinspritze zu setzen?
Ist es außerhalb Europas
anders?
Das war für mich immer die interessantere Frage: Was fasziniert Leser in
Vietnam an Wallander? Warum mögen ihn Leute aus Ecuador?
Und?
Ich hoffe, es sind die gleichen Gründe. Dass sie an ihm als Charakter
interessiert sind. Aber es gibt sicher auch einen exotischen Aspekt. Ich
erinnere mich an eine Mail von einer Übersetzerin, in der sie mich bat,
ihr Schnee zu beschreiben. Es war verdammt schwierig. Aber letztlich ist
das einer der Gründe, warum wir die Literatur so lieben: Weil sie
Menschen aus der ganzen Welt in der Fantasie ein wenig näher zusammen
bringt.
Sie sagen, dieser Wallander-Roman ist nun tatsächlich der letzte
Fall. Gibt es trotz der vielen Zeit, die Sie mit Ihrer Figur verbracht
haben, Eigenschaften, die Sie noch nicht von ihm kennen? Oder ist
Wallander für Sie zu hundert Prozent entwickelt?
Nein, ich weiß nicht alles von ihm. Wenn ich Kenneth Branaghs BBC
Version von Wallander sehe, dann spüre ich das. So wie Kenneth Branagh
das macht, zeigt er mir viele Dinge über Wallander, die ich nicht
wusste. Ich bin mir sicher, dass es viele Aspekte seines Charakters
gibt, die ich nicht kenne, denn ich weiß ja schließlich auch nicht alles
über mich selbst. Und Sie wissen nicht alles über sich, oder? Es gibt
immer Orte, die in einem liegen, die man nicht kennt. Das macht das
Leben so spannend. Man kann immer noch Geheimnisse in sich selbst
finden. Und ich vermute, das gilt für Wallander ebenso.
Ist es denkbar, dass Sie
etwas von Wallander lernen könnten?
Das ist eine gute Frage! Ich habe nie darüber nachgedacht. Gratulation
zu dieser Frage, denn das ist wirklich eine neue Frage für mich. Offen
gestanden, ich habe keine besonders intelligente Antwort darauf. Aber
ich glaube, es muss Situationen gegeben haben, in denen ich überlegt
habe, wie er wohl reagieren würde und die mir gezeigt haben: Ja stimmt,
auf diese Weise sollte auch ich reagieren. Aber ich bin ehrlich nicht
auf diese Frage vorbereitet. Vielen Dank! Nach zwanzig Jahren bekomme
ich eine Frage gestellt, auf die ich nicht vorbereitet war!
Bisher haben allein im deutschsprachigen Raum über 20 Millionen die
Wallander-Bücher gelesen. Befürchten Sie keine Proteste, wenn Sie jetzt
so endgültig Schluss machen?
Ach, nein. Wissen Sie, ich habe so viele andere Bücher geschrieben. Die
sind doch auch interessant.
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