(Foto: © Marion von der Mehden)
Herr Milberg, der
neueste Wallander-Roman der Der Feind im Schatten ist die letzte
Begegnung mit dem eigenwilligen Kommissar aus Schweden. Erinnern Sie
sich an Ihre erste Begegnung mit Kurt Wallander?
Ja, das ist schon ziemlich lange her. Es war gegen Anfang der 90er
Jahre, dass ich zum ersten Mal einen Krimi mit Kurt Wallander in der
Hand hielt. Ich habe ihn im Urlaub am Swimmingpool meiner Frau stibitzt,
fing an zu lesen und konnte gar nicht mehr aufhören. Mir blieb die
Klappe offen stehen, wie fleißig, wie spannend und wie anschaulich dieser
schwedische Autor schreiben kann. Hundert falsche Fährten legt er aus
und zwei führen dann schließlich weiter und entpuppen sich als richtig.
Er schafft es, diesen Bienenfleiß zu schildern, den die Polizei an den
Tag legen muss. Er schreibt so nah am Polizeialltag und doch so
spannend. Und dann natürlich diese Figur: der übergewichtige, etwas
kurzatmige, mürrische, einsame Kurt Wallander, der nichts mit dem
herkömmlichen Helden gemein hat, aber der wir sofort alle sind.
Wie meinen Sie das?
All das, was Kurt Wallander beschreibt, kennt man, er ist keine
stilisierte Figur. Mankell stellt wie alle großen Künstler dieses Wunder
des Sich-Wiedererkennens her: Oh, das bin ja ich! So wache ich auf, so
gehe ich ins Bett, so stehe ich am Meer, so schaue ich aufs Wasser, so
misslingen mir Dialoge und Gespräche, so schütte ich mir einen Whisky
ein, so höre ich Musik, so liebe ich ohne viele Worte, so verstehe ich
mich mit Kollegen oder werde ich ungeduldig und bin jähzornig. Und so
hat Mankell es geschafft, dass Kurt Kult geworden ist, obwohl und gerade
weil Kurt Wallander uns so nah ist.
Aber das Wiedererkennen
hat doch seine Grenzen. Schließlich sind nur die Wenigsten von uns
Kommissare, was den Reiz des Krimis ausmacht…
Ja, der Kriminalroman mit seinem Auftrag an die ermittelnden
Behörden gibt uns, den Lesern, einen Vorwand durch Welten zu wandern,
die ein normaler Bürger gar nicht erlebt. Die Gesellschaft ist
unübersichtlich geworden. Es gibt viele Parallelwelten. Das Wort kann
man mögen oder nicht, aber es beschreibt in einem Begriff, dass wir die
Übersicht nicht mehr haben, auch in unserem eigenen Leben nicht. Ich
weiß zum Beispiel nicht viel von dem, was um mich herum in München
stattfindet. Ich habe da meine Familie und ich habe da meine Gänge, den
Weg zum Flughafen und so weiter. Aber ich bin nicht viel in den
Restaurants, im Nachtleben, in Bars, in Puffs, in den christlichen
Gemeinden, in der Kirche, nicht im Krankenhaus, nicht in der Kaserne,
nicht beim Militär, nicht in den Badeanstalten, nicht in den Klöstern -
so könnte ich ewig fortfahren, Welten aufzuzählen, in denen ich mich
nicht auskenne. Und als Ermittelnder musst Du ganz tief bohren, in diese
Welten vordringen, jeden Stein umdrehen. Und das macht Wallander. Und
dabei ist er kurzatmig, hat Zucker und trinkt gerne Whisky,
vernachlässigt seine einzige Tochter, ist grimmig mit seinen Kollegen.
Er hat also all die Defizite, die wir fürchten, auch zu haben, wenn wir
nicht aufpassen, gegen die wir ankämpfen, weil uns die Kraft fehlt, das
Temperament, das Herz, die Empathie, die Zeit.
So viel zum Kommissar
Wallander. Nun zum Sprecher Axel Milberg - wie würden Sie Ihre Art des
Lesens beschreiben?
Wenn ich es in einem Satz zusammenfassen soll, würde ich sagen, dass
ich ein intuitiver Sprecher bin. Aber die Intuition ersetzt nicht die
Vorbereitung, sondern kommt hinzu. Für mich ist das Lesen ein physisches
Erlebnis. Das heißt, ich sehe, was ich lese. Ich sehe einen Film. Diesen
Film beschreibe ich im Grunde genommen den Hörern. Nehmen wir zum
Beispiel den Anfang von Mankells Roman Der Chinese. Der ist aufgebaut
wie ein Film. Sie kommen aus der Totale, zoomen aus der Totale über
Norwegen über die Grenze nach Schweden, einen Fluss überquerend,
sozusagen wie eine Helikopterfahrt über die verschneite Landschaft
folgen Sie einem Wolf über verschiedene Orte bis dorthin, wo der Wolf
stehenbleibt und anfängt, den abgetrennten Fuß in einem Schuh, den
Unterschenkel, das Bein eines Menschen anzunagen. Da zoomt dann die
Kamera langsam näher, aus der Totale in die Halbtotale, in die Nah- bis
in die Großaufnahme. Und dann ist Schnitt. Und dann sind wir bei dem
Mann, der nur noch dieses eine Dorf besuchen will, um Fotos zu machen
von den verschneiten Häusern, aus deren Schornsteinen Rauch aufsteigt.
Und so haben Sie im Grunde genommen einen filmischen Aufbau.
Was bedeutet für Sie
beim Lesen im Studio die Regie?
Meine Regisseurin Caroline Neven Du Mont, mit der ich bei meinen
Aufnahmen in München meistens zusammenarbeite, ist für mich meine
stellvertretende Zuhörerin. Wenn sie sich langweilt, wird sich auch der
Zuhörer langweilen. Außerdem neige ich dazu, zu schnell zu lesen - und
dann sagt sie mir »langsamer«. Sie hat an der Lesung eine ungeheure
Leistung, selbst wenn sie wenig sagt. Ihre Leistung ist es, dass sie
immer sehr wach zuhört, um zu kontrollieren, wie es später dem Zuhörer
gehen wird.
Was macht für Sie den
besonderen Reiz der Studioarbeit aus?
Das Herrliche bei Studioaufnahmen ist, dass das Optische wegfällt.
Ich könnte also im Pyjama dastehen, mit Duschhaube, und einem Popel in
der Nase - das wäre völlig egal. Es gibt zwischen dem Text und meiner
Stimme nur meine Fantasie und die Art zu denken. Ich erschaffe sozusagen
eine Welt durch die Stimme. Ich mache Unsichtbares sichtbar. Das sind
für mich Sternstunden des Berufs. Also ich mache das nicht, um davon zu
leben. Beim Schaffen einer Welt, da stört so wenig. Da muss es keine
Beleuchter geben, keine Maske und Wohnwagen und Catering. Es ist die
Konzentration auf etwas ganz Wesentliches, das den Schauspieler ja
ausmacht - in der Flut der Bilder, in der wir stehen, von Youtube und
dem Fernsehen und dem Kino und Facebook und so weiter - das Auge
schließt sich, ruht aus, die Ohren öffnen sich und Du geht im Kopf
spazieren, angeregt durch das, was Du hörst. Als ich Henning Mankell
einmal erzählte, dass in Berlin im Planetarium vier-, fünf-,
sechshundert Menschen in Liegestühlen unter dem gestirnten Himmel liegen
und Hörspielen lauschen, war er ganz erstaunt und freute sich.
Sie kennen Henning
Mankell persönlich. Wie würden Sie den Menschen Mankell beschreiben?
Er ist ein Mensch, bei dem man verblüfft darüber sein muss, wie
viele unterschiedliche Leben er zu haben scheint. Er ist hier und da und
dort. Er unterstützt Christoph Schlingensief und ist dann wieder in
Afrika und hat sein Theater und inszeniert dort und hat einen Verlag für
Dichtung aus Afrika und der Dritten Welt gegründet und eine
Produktionsfirma, die er aber inzwischen wieder verkauft hat. Er kümmert
sich um die Realisierung seiner Bücher, auf die er einen letzten Blick
hat, genau wie auf die Filme. Und er schreibt - und wir wissen ja, das
Schreiben ist eine einsame Tätigkeit, bei der man keine Störungen
vertragen kann. Er hat vier Kinder. Und er liebt es, Geschichten zu
hören, erzählt zu bekommen. Wobei er ungeduldig ist, das spürt man. Er
hat keine Zeit für Smalltalk, für Gelaber, für Meinungen und so weiter.
Aber er liebt es, Geschichten zu erzählen und Geschichten erzählt zu
bekommen, egal von wem, nicht intellektuelles Gewäsch, sondern
Geschichten, die das Leben beschreiben in den verschiedensten
Kontinenten und Lebensformen.
Was zeichnet einen
"typischen" Mankell aus?
Ich denke, seine Einstellung, dass jedem Verbrechen ein anderes
Verbrechen vorausgegangen ist. Das ist, so scheint mir, eine
skandinavische Tradition. Dieses Gleichgewicht des Verbrechens ist ein
großes Thema auch in den privaten und politischen Ansichten Mankells.
Jedes Verbrechen hat einen Grund in einer sozialen Ungerechtigkeit. Ich
bin da anderer Meinung als er, ich persönlich. Ich glaube, es gibt auch
das Böse im Menschen - leider, wo wir uns mit der Begründung schwer tun
würden. Zwei können das Gleiche erleben und der eine wird ein Heiliger
und der andere wird Adolf Hitler. Man kann es eben nicht immer erklären,
es wäre schön, wenn es so wäre, aber das sieht Mankell eben so. Und in
großen Teilen hat er damit sicherlich Recht. Ein großes Thema für ihn
sind die Verbrechen der so genannten Ersten Welt an der so genannten
Dritten Welt, deren Folgen oft mit Verspätung eintreten. Im Chinesen
ereilt die Nachfahren eines Mannes, der sich 140 Jahre zuvor als
sadistischer Aufseher beim Eisenbahnbau in Amerika an den dortigen
chinesischen Zwangsarbeitern vergriffen hat, ein grausames Ende. 140
Jahre nach der ursprünglichen Tat. Also das ist Mankell in Reinkultur
sozusagen. Der reine Mankell in seiner politischen Überzeugung.
Hat sich der Zugang zu
Mankells Werken durch die persönliche Bekanntschaft mit ihm verändert?
Nein. Nein. Nein, das möchte ich auch nicht. Ich möchte, dass diese
Texte wie aus dem Himmel kommen. Das geht mir übrigens mit allen
Künstlern so, Musikern oder Schauspielern oder Schriftstellern.
Eigentlich möchte ich sie, gerade wenn ich sie sehr verehre, gar nicht
unbedingt persönlich kennenlernen - also Mankell ist da für mich eine
Ausnahme. Ich will gar nicht so viel verstehen, weil ich lieber meinen
eigenen Zugang dazu baue. Oder das Staunende nicht verlieren möchte.
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