10. "Vor dem Frost"
("Innan frosten", 2002)

 

Autor:
Henning Mankell


Titel:
"Vor dem Frost"
Verlag:
Zsolnay Verlag (544 Seiten / Gebunden)
Erscheinungsdatum:
18. Juli 2003


 

Autor:
Henning Mankell


Titel:
"Vor dem Frost"
Verlag:
dtv galleria (528 Seiten / Taschenbuch)
Erscheinungsdatum:
26. August 2005

 

 

kurzbeschreibung



Ein Kalb wird bei lebendigem Leib verbrannt, und sechs brennende Schwäne sind über dem Marebo-See gesehen worden. Frauen verschwinden, eine Amerikanerin wird in der Kirche erdrosselt und ein Lastwagen voll Dynamit läßt den Dom von Lund in Flammen aufgehen. Linda ist Polizeianwärterin in Ystad und darf Kurt Wallander bei seinen Ermittlungen zunächst nur als Tochter begleiten. Dann aber wird sie persönlich in den Fall hineingezogen: Ihre Freundin Anna ist spurlos verschwunden, kurz nach einer rätselhaften Begegnung mit ihrem Vater, der seit Jahren als verschollen galt. Linda macht sich auf die Suche nach der Freundin und ermittelt teilweise auf eigene Faust. Dabei verliebt sie sich in Stefan Lindman, der ebenfalls nach Ystad gewechselt ist und ihr Freund wird. Der Konflikt mit dem Vater ist vorprogrammiert. Bei dem heftigen Temperament der beiden bleibt es nicht aus, dass Geschirrteile fliegen. Linda muss eine harte Bewährungsprobe bestehen, bis sie von Kurt Wallander ernst genommen wird und am Ende auch die Polizeiuniform tragen darf.

In seinem neuen Kriminalroman spannt Mankell den Bogen von dem furchtbaren Massaker in Jonestown, Guyana 1978, wo ein religiöser Fanatiker allen seinen Anhängern befahl, Selbstmord zu begehen, bis zum 11. September 2001. Zum Thema von religiösem Wahn und Gewaltverbrechen ist ihm ein fesselnder Roman gelungen, der zu seinen besten zählt - diesmal mit Linda Wallander in der Hauptrolle.

 

 

leser-rezensionen



Nach einem Ausflug nach Härjedalen ist Mankell mit seinen Büchern wieder nach Schonen zurückgekehrt. „Vor dem Frost“ spielt im uns wohlbekannten Ystad, nur dass diesmal Linda Wallander, die Tochter unseres Lieblings-Kommissars, die Hauptperson des Romans ist.

Es ist Spätsommer 2001. Linda hat gerade die Polizeischule abgeschlossen und wartet nun darauf, ihren Dienst bei der Polizei Ystad beginnen zu können. Den ganzen Sommer über sitzt sie zwischen allen Stühlen. Sie ist nicht mehr Studentin, noch nicht Polizistin, wohnt als Gast bei ihrem Vater, aber eigentlich nirgendwo richtig und kann nichts tun, außer zu warten, dass ihr Dienst beginnt.

Von den eigenartigen Ereignissen, die rund um Ystad vor sich gehen, erfährt sie so zunächst nur indirekt über ihren Vater: Mehrfach werden Tiere auf grausame Art umgebracht und eine Wissenschaftlerin, die alte Wege und Pfade erforscht, verschwindet und wird später auf ebenfalls grausame Weise ermordet aufgefunden. Auch Anna, eine alte Freundin aus Lindas Schulzeit, verschwindet plötzlich, und so beginnt Linda auf eigene Faust und zunächst gegen den Willen ihres Vaters zu ermitteln.

Wie häufig in den Wallander-Krimis sind zumindest die groben Zusammenhänge schnell klar, da einige Absätze aus der Perspektive des Täters oder der Täter geschrieben sind. Dadurch bietet sich wieder mehr Platz für die Fragen: Wie kam es dazu? Was sind die Beweggründe dieser Menschen?

Das meiner Ansicht nach interessanteste an diesem ersten Linda-Roman ist der Wechsel der Perspektive. Es ist die gleiche Stadt. Es sind die gleichen Menschen. Und auch die Situation, unglaublichen und unverständlichen Taten gegenüber zu stehen, ist dieselbe, wie in allen Wallander-Romanen zuvor. Doch wird das alles diesmal aus einer komplett anderen Perspektive beschrieben, was zum Teil völlig neue Blickwinkel ergibt.

Ich habe festgestellt, dass ich mich noch besser in Lindas Sicht der Dinge hineinfinden konnte, als in die Kurt Wallanders in den früheren Büchern, da sie mir natürlich viel mehr entspricht. Das zeigt auch wieder, wie genau Mankell die Situationen seiner Personen darstellen kann. Die detaillierten Beschreibungen von Handlungen, Gedankengängen und Gefühlen, die auch die kleinste Nebensache wichtig werden lassen, sind auch in diesem Buch, wie bei Mankell gewohnt, meisterlich. Neben den alten Bekannten von der Polizei Ystad begegnet uns auch Stefan Lindman überraschend wieder, der sich nach Schonen hat versetzen lassen, womit nun also auch „Die Rückkehr des Tanzlehrers“ indirekt zur Wallander-Reihe gehört.

Ach, ja, der eigentliche Krimi: Immer mehr Spuren tauchen auf, die auf irgendeinen christlichen Zusammenhang hindeuten; sie reichen vom Dschungel in Guyana über den Mittleren Westen der USA bis ins schonische Ystad, wo... Ja, da müsst ihr wohl bis nächstes Jahr warten...

Das Buch endet mit Lindas erstem Arbeitstag und dem Tag, an dem wohl allen klar wurde, wie sehr die Ereignisse auf der Erde heute miteinander zusammenhängen und mehr oder weniger alle betreffen.
Linda und ihre neuen Kollegen erleben das, was wohl alle Menschen innerhalb kürzester Zeit überall auf der Welt gleichzeitig erlebt haben: Linda sitzt nachmittags mit den Kollegen bei ihrer ersten Kaffeepause, als Martinsson und Kurt Wallander herein kommen - „In den USA ist was passiert...“ - und den Fernseher für die Sondersendung der Nachrichten einschalten...

Katharina Hülswitt

 
 
 
Der erste Fall für Linda Wallander, Tochter des alternden Kommissars, zeichnet sich dadurch aus, dass Kurt Wallander einen „Abschiedsgesang“ anstimmt. Seine alten Fälle werden ans Licht gebracht, sein Saufkumpan Sten Widen erfüllt eine dramatische Rolle, und der Bezug von Vater zu Tochter erweist sich als schwierig, da Linda kurz vor ihrem Eintritt ins Polizeileben nur eine „unsichtbare Uniform“ trägt, und somit das Verschwinden ihrer ehemals besten Freundin Anna aus privaten Gründen vorantreiben will. Kurt Wallander nimmt einen breiten Raum im Roman ein, und Linda gelingt es noch nicht, aus dem Schatten des Vaters zu treten. Immer wieder wird sie belehrt, und erkennt Gemeinsamkeiten, die Kurt Wallander nunmehr stark kritisiert, obzwar er selbst diese Schwachpunkte nicht überwunden hat.

Das Verhältnis von Tochter zu Vater, und das Bemühen, eine eigene Haltung in Bezug auf die Einstellung einer Polizistin zu ihrem Job einzunehmen, ziehen sich von der ersten bis zur letzten Seite durch. Klar, dass auch der verstorbene Großvater Relevanz erhält, da der Sentimentalität Genüge getan werden soll. Der eigentliche Fall wird durch die geschilderte Konstellation, und durch kaum beschriebene Selbstreflexion der grundsätzlichen Hauptfigur Linda Wallander stark in den Hintergrund gedrängt. Zunächst passieren bestialische Morde an Tieren, die bald schon in einer Hinrichtung an einer jungen Frau in einer Kirche münden. Die Frau sollte eine Art Menschenopfer darstellen, welches von einer Gruppe „christlicher Fundamentalisten“ als notwendig erachtet wird, um die „Philosophie der Dunkelheit“ propagieren zu können. Leider ist vieles an dieser Geschichte an den Haaren herbeigezogen, und es ist auch die Frage zu stellen, ob sich „christlicher Fundamentalismus“ zu derartig unsinnigen und bloßen Allmachtsmethoden entwickeln kann, sodass unangekündigte Terroraktionen durchgeführt werden? So gut wie alles bleibt in der Schwebe, und es fehlt an einem Kontrapunkt, wodurch die pseudoreligiösen Fantasiegebilde der „Erweckungsbewegung“, die sich nach außen nicht repräsentieren will, in ihren Grundfesten erschüttert werden mag. Die Unsinnigkeiten werden aber in die Gehirne dieser Menschen eingeschrieben (der „Anführer und Meister“ war fiktives Mitglied der „Volkstempler“-Sekte, die von Jim Jones im Dschungel Guyanas angesiedelt wurde, und im Massenmord bzw. Selbstmord der Hauptzahl der Mitglieder und anschließendem Selbstmord von Jones endete, wobei der fiktive Überlebende nunmehr also seltsame Konsequenzen zieht), ohne sich irgendwann in Luft aufzulösen oder zumindest als Schwachsinn deklassiert zu werden. Auch die hinzugezogene Dozentin für Theologie, welche die „Bibelinterpretationen“ des Anführers zu entschlüsseln versucht (es wird eine Bibel von ihm aufgefunden, wobei aufgrund von Hinzufügungen erkannt wird, dass er Teile der Bibel „umschreiben“ oder gar „ergänzen“ will, und dies freilich auf hirnrissige Weise), führt da zu keiner Klärung, sondern mehr zu zusätzlicher Verwirrung.

Das Buch muss auch nicht als Antwort von Mankell auf die Vorgänge des 11. September 2001 verstanden werden, da nie bewiesen werden konnte, dass es sich seinerzeit um „muslimischen Fundamentalismus“ handelte, der in der Attacke des WTC Ausprägung fand, sondern vielmehr um einen Angriff auf den Kapitalismus nordamerikanischer Spielart. Christlicher Fundamentalismus, wie er von Mankell beschrieben wird, ist eine pure Fiktion, die nie und nimmer in dieser Form artikuliert werden mag. Nimmt man an, dass aus der Fiktion Realität wird, so ist die geistige Grundlage der „christlichen Erwecker“ als reiner Allmachtswahn, und schwere geistige Störung zu bezeichnen, was freilich Kommissar Wallander in diesem Sinne bezweifelt.

Dennoch ist „Vor dem Frost“ ein als gelungen zu bezeichnender Roman, da es Mankell wiederum meisterhaft versteht, Spannung zu erzeugen, und stetig bis zur Aufklärung des Falles zu erhöhen. Die zum Teil arg konstruierte Handlung muss diesbezüglich ja nicht unbedingt als störend empfunden werden.

Jürgen Heimlich